ARCHIV FÜR AUTOBAHN- UND STRASSENGESCHICHTE

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Nach 80 Jahren Wirklichkeit: Autostraße Berlin - Warschau

Am 8. Juni 2012, einen Tag vor dem Beginn der Fußball-Europameisterschaft in Polen und der Ukraine, gab der polnische Ministerpräsident Donald Tusk mit einer Fahrt auf dem letzten fertiggestellten Teilstück zwischen Lodz und Warschau die polnische Autobahn A 2 für den Verkehr frei. Auf ihr kann man jetzt ungehindert von Berlin in die polnische Hauptstadt reisen (FAZ Nr. 130 vom 7. Juni 2012).

Rund ein halbes Jahr zuvor, am Mittwoch, 30. November 2011, hatte der polnische Staatspräsident Bronislaw Komorowski eine rund 106 km lange Autobahn von der deutsch-polnischen Grenze bei Schwetig (Swiecko) zur etwa 50 km westlich Posens (Poznan) gelegene Kleinstadt Neutomischel (Nowy Tomysl) eröffnet. Sie verkürzte die Fahrzeit von bisher rund 2,5 auf etwa eine Stunde und beseitigte die dort herrschende Staugefahr. Bei seiner Ansprache hob Komorowski hervor: „Diese Autobahn ist nicht nur der Weg, der uns mit dem europäischen Autobahnsystem verbindet. Es ist auch ein Anschluss an die Moderne, an den reicheren Teil unseres Kontinents.“ [1]

Mit dieser Autobahn wurde eine Städteverbindung Wirklichkeit, die Wirtschafts- und Verkehrsexperten schon vor rund 80 Jahren angedacht hatten. So stellte ein Autor mitten in der Weltwirtschaftskrise Überlegungen zum Potenzial eines europaweiten Fernstraßennetzes für Kraftfahrzeuge an:

"Der Ausbau der mittel- und westeuropäischen Exportwirtschaft nach dem wirtschaftlich umgestellten Osten, vor allen Dingen nach Rußland, läßt sich ohne die Vermittlung des Auto-Frachtverkehrs aber gar nicht denken. So ist es als besonderer Verdienst der deutschen Verkehrsfachleute anzusehen, wenn bereits in den letzten Jahren mehrmals Besprechungen über direkte Autoverbindungen nach Moskau abgehalten wurden." [2]

Mit Blick auf die begrenzte Geschwindigkeit der Eisenbahn schrieb Kurt Kaftan, Chefredakteur der Fachzeitschrift „Die Autobahn“, im Begleittext zur Skizze eines europäischen Autobahnnetzes hellsichtig (Bild 1):

"Das Kraftfahrzeug aber, welches das volkstümlichste Verkehrsobjekt zu werden verspricht und in manchen Ländern bereits ist, läßt die Gebiete Europas erst wirklich zu einer Einheit zusammenrücken, die für die zukünftige Entwicklung unumgänglich ist." [3]

Die Karte zeigte eine von Kaftan eigenmächtig entwickelte Zusammenstellung der damals in Italien, Deutschland, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und der Schweiz diskutierten Autostraßen-Ideen. [4] Er behauptete, dies seien die beim II. Internationalen Autobahn-Kongress 1932 in Mailand besprochenen Grundlinien, doch hatte eine solche Karte dem Kongress nicht vorgelegen, wie ein Blick in den Bericht über diese international besetzte Zusammenkunft beweist. [5]

Bei allen Vorschlägen ging es um die Verbindung europäischer Hauptstädte und Wirtschaftszentren. Im Zentrum des angedachten Fernstraßennetzes stand die Ideallinie der HAFRABA-Strecke von den Hansestädten über Frankfurt am Main bis Basel sowie die Fortsetzung durch die Schweiz nach Mailand und Genua. Die drei konzentrischen Kreise markieren die von Frankfurt aus gemessenen Entfernungen 500 km, 1.000 km und 1.500 km. Interessanterweise enthält die Darstellung keine Routenvorschläge für Skandinavien und Großbritannien.

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Bild 1: Skizze für ein transeuropäisches Autobahnnetz von 1932

Das polnische Autobahnnetz ist in den letzten Jahren, auch dank der Finanzierungshilfen der EU, deutlich gewachsen. Es umfasst derzeit 1.194 km (= 60% der vorläufigen Planung von rund 1.985 km). Zentraler Knotenpunkt ist die Industriestadt Lodz im Herzen Polens (Bild 2).

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Bild 2: Ausbaustand des polnischen Autobahnnetzes per 7. Juni 2012 [6]

Als Erbe des Reichsautobahnbaus verfügte Polen nach dem Zweiten Weltkrieg über 365 km befahrbare Autobahnen: rund 21 km an der einbahnigen Betriebsstrecke 3 Elbing – Königsberg und rund 344 km an der Betriebsstrecke 9 Berlin – Breslau bzw. der nicht durchgehend fertiggestellten Betriebsstrecke 29 Breslau – Gleiwitz – Beuthen (siehe die Hinweise in Bild 2).

Die polnische A 2 wird im Endausbau rund 620 km lang sein und bei Kukuryki die weißrussische Grenze erreichen; immerhin 452 km davon sind bereits in Betrieb. Große wirtschaftliche Bedeutung kommt der A 1 von Danzig nach Gorczyzcky an der tschechischen Grenze zu (Gesamtlänge 565 km), weil sie den bedeutenden Ostseehafen mit den wichtigen polnischen Industrierevieren verknüpfen wird. Die mit 640 km längste polnische Autobahn A 4 verbindet in absehbarer Zeit Deutschland bei Görlitz mit der Ukraine (Übergang in die ukrainische M 10 bei Korzcowa). Der geplante Autobahnring um Warschau scheint noch Jahre auf sich warten zu lassen.

Anmerkungen:
[1] Zitiert nach FAZ Nr. 280 vom 1. Dezember 2011, S. 9.

[2] Th. Thomas, Konstruktur eines inter-europäischen Autobahnbaues, in: Die Autobahn 4 (1931), Heft 7, S. 2 – 4 (Zitat S. 3).

[3] C. G. K. (das Kürzel steht für Curt Gustav KAFTAN), Europa wird kleiner durch Autobahnen, in: Die Autobahn 5 (1932), Heft 7, S. 2 – 3 (Abbildung S.2, Zitat S. 3).

[4] Karte Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abt. 423, Nr. 1609 (Einzeichnung vom Verfasser).

[5] Jacques Thomas, Le IIe Congrés international des Autoroutes, in: Revue générale des routes et de la circulation routière 7 (1932), No 77, S. 167-177.

[6] http://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Autobahnen_und_Schnellstrassen_in_Polen;
Legende: grün = in Betrieb; rot = im Bau; grau = in Planung

(letzter Zugriff am 8. August 2012; Einzeichnungen vom Verfasser)

Text: R. Ruppmann, Bad Homburg, 8/2012

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